01.09.2017

Plädoyer für den Nationalstaat

Analyse von Frank Furedi

Ein neues Buch des Soziologen Frank Furedi verteidigt den Populismus. Die Zuwendung zur Nation – etwa in Ungarn – ist oft Ausdruck eines Strebens nach Demokratie und Zusammenhalt.

Als ich mich an meinen Schreibtisch setzte, um mein neues Buch „Populism and the European Culture Wars“ („Populismus und die europäischen Kulturkämpfe“) zu schreiben, hatte ich ein Gefühl von Dringlichkeit. Ursprünglich wollte ich dieses Buch gar nicht schreiben. Meine Gedanken waren anderswo – bei Recherchen für ein langfristiges Projekt über die Geschichte der Freiheit und die Angst davor. Doch dann kam der Brexit und mit ihm ein Kulturkampf gegen den Populismus, der ganz Europa erfasste. Da ich den Großteil des letzten Jahres in Ungarn verbracht habe, konnte ich die Angriffe auf dieses Land gut mitverfolgen. Sie beruhen auf denselben Motiven wie der allgemeine Kreuzzug gegen den „Populismus“ in Europa. Dabei sagt die niemals ruhende Offensive EU-naher Medien mehr über den undemokratischen Geist in Brüssel aus als über die Lage in Budapest.

Viele Gründe trugen zu meiner Entscheidung bei, das Buch zu schreiben. Als ich die Debatten zum Populismus verfolgte, irritierte und beunruhigte mich die weit verbreitete Meinung, die EU sei die einzig legitime Hüterin des Kontinents. In Debatten über den Brexit oder den Status von osteuropäischen Staaten wie Ungarn und Polen wird oft davon ausgegangen, dass die EU das europäische Ideal verkörpert – sowohl in politischer als auch in moralischer Hinsicht. Daraus folgt dann die Schlussfolgerung, dass alle Befürworter des Brexits antieuropäisch sein müssen.

Dabei bin ich nicht nur ein leidenschaftlicher Befürworter des Brexit, weil ich glaube, dass die EU dem öffentlichen und politische Leben in Großbritannien schadet, sondern auch und gerade, weil es mir um die Zukunft Europas geht. In meinem Buch zeige ich, dass die von der EU-Oligarchie vorangetriebenen Werte den historisch gewachsenen Werten der europäischen Zivilisation fremd sind. Brüssel preist gerne die europäischen Errungenschaften und Ideale, doch Verhalten und Politik der EU-Funktionäre strafen diese rhetorische Wertschätzung immer wieder Lügen.

„Die EU lehnt viele Werte der europäischen Renaissance und Aufklärung ab.“

In „Populism and the European Culture Wars“ erkläre ich, dass sich die EU in Wirklichkeit für die Geschichte Europas schämt. Jegliche Geschehnisse vor 1945 gelten als „schlechte, alte Zeit“. Für die EU-Eliten wurde das „wahre“ Europa erst 1945 geboren. Wenn man die Kultur- und Sozialpolitik der EU betrachtet, erkennt man, dass die EU viele Werte der europäischen Renaissance und Aufklärung ablehnt. Obwohl ich Atheist bin, schätze ich die Beiträge, die das Christentum zur Entstehung und Entwicklung der europäischen Zivilisation geleistet hat. Die EU hingegen verbindet Europas religiöse Vergangenheit vor allem mit peinlichen, antiquierten Vorurteilen.

Eine der wichtigsten, vermeintlich ewig gestrigen Ideen, die die EU verachtet, ist die nationale Souveränität. Das war für mich ein weiterer Grund, dieses Buch zu schreiben: Ich wollte den fundamentalen europäischen Wert der Volkssouveränität verteidigen und hochhalten.

„Populismus“ ist für die EU-Ideologen zu einem Begriff geworden, mit dem sie ihre Gegner moralisch verurteilen. Ihre elitäre Geringschätzung einfacher Europäer ist offensichtlich. Demokratie ist für sie bloß ein technisches Instrument ohne inhärenten Wert. Diejenigen, die es wagen, ihre Ansichten geltend zu machen – insbesondere in Form eines Referendums – werden als ungebildete Einfallspinsel verunglimpft. Man unterstellt, sie seien von einer heimtückischen Macht manipuliert wurden – von den Medien oder politischen Demagogen. Angeblich sind die gesellschaftliche Fragen heutzutage zu komplex, als dass gewöhnliche Menschen sie verstehen könnten. Die kultivierten Funktionäre in den Korridoren der elitären europäischen Institutionen können ihre Meinungen also problemlos ignorieren.

„Der Populismus wird mit einem Schadstoff gleichgesetzt, der den Kontinent vergiftet.“

Die antipopulistische Propaganda verurteilt einfache Leute, die die „falsche“ Wahlentscheidung treffen – sich also gegen Brüssel entscheiden –, stets als Fanatiker, Xenophobe, Rassisten, Antisemiten, Islamophobe oder Nationalisten. In Wahrheit zeigen diese verächtlichen Begriffe nur, dass die EU-Eliten unfähig sind, Werte zu verstehen, die von ihren eigenen abweichen. Mein Buch soll eine radikaldemokratische Verteidigung des Populismus sein. Es bietet eine soziologische Kritik der aktuellen Pathologisierung des Populismus, der mit einem Schadstoff gleichgesetzt wird, der den Kontinent vergiftet.

Mein Buch ist ein Plädoyer für die nationale Souveränität. Gewiss stößt die nationale Souveränität manchmal an ihre Grenzen, aber sie bietet einen weitaus demokratischeren und bedeutsameren Rahmen für das öffentliche Leben als transnationale Institutionen wie die EU.

Jegliche Äußerung nationaler Gefühle, nationalen Stolzes oder Bewusstseins wird heute von EU-nahen Medien als eine Form von Ausländerfeindlichkeit verurteilt. Nationale Identität wird als erster Schritt auf dem Weg zu Rassismus, Faschismus und schließlich zum Holocaust dargestellt. Die EU-Führung setzt diese vereinfachende, ahistorische Angst-Taktik ein, um Nationalgefühl mit den Schrecken der Nazi-Ära zu assoziieren.

„Die EU führt einen Kulturkampf gegen den Nationalstolz.“

Der Umgang mit dem Nationalstolz offenbart die Doppelmoral der EU in Fragen der Identität und Zugehörigkeit. Die EU fördert stets die Identitäten von Minderheiten, Regionen, Ethnien und anderen Gruppen, stellt jedoch die nationale Identität an den Pranger. Die EU brüstet sich mit ihrer Wertschätzung von Identitätspolitik und Vielfalt; diese Wertschätzung endet allerdings bei der Vielfalt der nationalen Kulturen Europas. In meinem Buch beschreibe ich, wie die EU einen Kulturkampf gegen den Nationalstolz und das nationale Bewusstsein führt.

Nationale Souveränität ist aus zweierlei Gründen wichtig. Erstens ist der Nationalstaat der größte bisher von Menschen geschaffene Bereich, in dem demokratische Verantwortung sinnvoll ausgeübt werden kann. Volkssouveränität kann sich über eine Ortsgemeinschaft, eine Stadt oder ein Land erstrecken, aber sie kann nicht in einem Gebiet ausgeübt werden, dass größer als ein Land ist. Zweitens bietet nationale Souveränität einen Rahmen für die Entwicklung einer wahren, bedeutungsvollen Identität. Zwar gibt es noch andere Möglichkeiten, wie Menschen ihre Identitäten entwickeln können, doch meistens stellt die Nation den größten Bereich dar, in dem sich eine gemeinsame Identität herausbilden kann.

Ich habe dieses Buch auch geschrieben, um eine alternative Sicht auf den Kulturkampf zwischen der EU und Ungarn zu liefern. Die Darstellung Ungarns in den westlichen Medien hat wenig mit dem echten Land zu tun, in dessen Hauptstadt ich kürzlich viel Zeit verbracht habe. Es gibt viele legitime Gründe, die Regierungspolitik und das öffentliche Leben in Ungarn zu kritisieren. Die Probleme Ungarns unterscheiden sich allerdings kaum von denen der meisten anderen europäischen Gesellschaften. Trotzdem wird Ungarn als Negativbeispiel herausgegriffen und für seine Politik und Handlungen kritisiert, während andere EU-Mitglieder für die gleichen Dinge einen Freifahrtschein bekommen.

„Die Konflikte zwischen der EU und Ungarn betreffen Europas Zukunft.“

Das Hauptverbrechen der ungarischen Regierung besteht aus Sicht der EU darin, dass sie in vielen Fragen Werte vertritt, die im Widerspruch zu denen der EU stehen. Zu diesem Schluss bin ich bei den Recherchen für mein Buch gekommen. Die kulturellen und politischen Konflikte zwischen der EU und Ungarn mögen für viele im Westen nur ein Randthema sein. Aber die dadurch aufgeworfenen Fragen betreffen direkt Europas Zukunft – und darüber hinaus auch die Debatten rund um nationale Souveränität, Demokratie und Populismus, um die es in meinem Buch geht.

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