03.02.2021

Nichts aus der Prohibition gelernt?

Von Christopher Snowdon

100 Jahre nach Inkrafttreten der US-Alkoholprohibition befürworten manche immer noch derartige Einschränkungen der Bürgerrechte, zum Beispiel bei illegalen Drogen, Rauchen oder Dampfen.

Am 17. Januar 1920 trat in den Vereinigten Staaten das „Edle Experiment“ (noble experiment) des Verbots von Verkauf, Herstellung und Transport von Alkohol in Kraft. Zur Feier des Tages veranstaltete der hetzerische Abstinenzprediger Billy Sunday eine symbolische Beerdigung für das Teufelszeug und prognostizierte, dass „die Slums bald nur noch Erinnerung sein werden. Wir werden unsere Zuchthäuser zu Fabriken machen und die Gefängnisse zu Lagerhallen und Kornspeichern. Männer werden nun aufrecht gehen, Frauen werden lächeln und die Kinder lachen. Die Hölle wird für immer ‚zu vermieten‘ sein.“

Wie jedes Schulkind weiß, haben sich die Dinge anders entwickelt. Der 18. Verfassungszusatz über das Alkoholverbot ist der einzige in den USA, der Freiheitsrechte entzog, und der einzige, der je wieder aufgehoben wurde. Dennoch hatten Prohibitionisten 1920 gute Gründe anzunehmen, dass ihr Land bald „für immer knochentrocken“ sein würde. Die Aufhebung würde eine Ratifizierung von drei Vierteln der Bundesstaaten erfordern, eine scheinbar unerreichbare Mehrheit. Darüber hinaus folgte dem 18. bald der 19. Zusatz über das Frauenwahlrecht. Aktivistinnen hatten Jahrzehnte lang an vorderster Front der Prohibitionistenbewegung in der Women‘s Christian Temperance Union und der Anti-Saloon League gestritten. Da Frauen weniger tranken und als die Hauptopfer des „Alkoholkartells“ dargestellt wurden, ging man davon aus, dass ihre Stimmen der Prohibition einen undurchdringlichen demokratischen Schutzschirm verleihen würden.

Wie es die Geschichte wollte, formierte sich 1929 die Frauenorganisation für die Reform der Prohibition (Women‘s Organization for National Prohibition Reform) und wurde zu einer der einflussreichsten Stimmen für deren Aufhebung. Vier Jahre später war die Prohibition Geschichte und ein Synonym für idiotischen staatlichen Übereifer, zum Scheitern verurteilten Utopismus und Al Capone.

War wirklich alles schlecht? Gelegentlich tauchen Apologeten der Abstinenzbewegung in der Presse auf, wie Anfang des Jahres im britischen Guardian, wo das feministische Argument überraschend wieder auflebte. 1 Revisionisten verweisen auf verschiedene aus ihrer Sicht positive Entwicklungen in den 1920er Jahren. Der Alkoholkonsum pro Kopf sank während der Prohibition, heißt es, und blieb auf Vor-Prohibitions-Niveau bis in die 1970er Jahre. Die Häufigkeit von Leberzirrhosen war während der trockenen Ära gering und stieg nicht substanziell bis zu den 1950ern.

Das „edle Experiment“ scheint nicht nur einen bleibenden Einfluss darauf gehabt zu haben, wie viel die Amerikaner tranken, sondern auch, wie sie tranken. Die größte Abstinenzbewegung ihrer Zeit hieß nicht umsonst Anti-Saloon League. Schmuddelige, von trinkfesten Männern dominierte Saloons verschwanden in den 1920ern und kamen nie wirklich zurück. Die Bars, die nach der Aufhebung öffneten, waren eher von den Flüsterkneipen der Prohibitionszeit mit ihrem gemischten Publikum geprägt. Zum Ende des 20. Jahrhunderts wurden zwei Drittel des Alkohols zu Hause und bei privaten Partys konsumiert.

„Die Mordrate in den USA stieg während der Prohibitionszeit durchweg, erreichte einen Höhepunkt im Jahr der Aufhebung und fiel anschließend stark ab.“

Neunmalkluge kommen deshalb zu dem Schluss, dass die Prohibition in Wirklichkeit ein Erfolg gewesen sei. Dieses Argument wurde kürzlich von David Aaronovitch in der Times vorgebracht. Aber es ist selbst dann schwer zu schlucken, wenn man alles Blutvergießen, die Giftmorde und das organisierte Verbrechen ausblendet. Tatsächlich erfreuten sich die USA eines starken Rückgangs der Leberzirrhose-Fälle, 2 allerdings hauptsächlich in den Jahren vor der Prohibition. Dies mag teilweise auf die vorangegangenen Verbote in einzelnen Bundesstaaten zurückzuführen sein. Jedoch erlebte Großbritannien einen noch stärkeren Rückgang in der gleichen Periode 3 und verzeichnete wie die USA einen historisch niedrigen Alkoholkonsum während mehrerer Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg. Dies lässt zumindest darauf schließen, dass ein ähnlicher Effekt auch mit weniger drastischen Maßnahmen zu erreichen gewesen wäre. Und ob das unzweifelhaft der Prohibition geschuldete Verschwinden der Saloons gut war, ist Ansichtssache.

Alles Blutvergießen, die Giftmorde und das organisierte Verbrechen kann man ohnehin nicht ausblenden. Die Mordrate in den USA stieg während der Prohibitionszeit durchweg, erreichte einen Höhepunkt im Jahr der Aufhebung und fiel anschließend stark ab. 4 Das dürfte wohl kaum Zufall gewesen sein. Interessanterweise folgt die Suizidrate einem ähnlichen Muster, und es gibt kaum Indizien für einen sinkenden Alkoholkonsum. 5 Das Alkoholverbot brachte nicht nur das moderne organisierte Verbrechen hervor. Es ließ auch den Ku Klux Klan wieder aufleben sowie regelmäßige Polizeirazzien auf Privatgeländen, lieferte die Blaupause für das FBI und führte zum Entstehen des rigorosen US-amerikanischen Strafvollzugs, wie Lisa McGirr in „The War on Alcohol“ zeigt. 6 Es brachte die Regierung dazu, Industriealkohol zu vergiften 7 und dadurch im Endeffekt tausende ihrer eigenen Bürger zu ermorden. Von den Zehntausenden durch schwarz gebrannten Schnaps Erblindeten, Verstümmelten oder Getöteten mal ganz abgesehen.

Man kann vielleicht noch akzeptieren, dass manche Personen durch die Prohibition davor bewahrt wurden, sich zu Tode zu trinken, solange man anerkennt, dass die vielen durch sie ausgelösten gesundheitlichen und sozialen Probleme letztendlich ihre paternalistischen Errungenschaften übertrafen. Das Verbot hat sicherlich den Alkoholkonsum etwas reduziert – alles andere wäre verwunderlich. Aber die Versprechen der Prohibitionisten wurden nicht eingehalten. Zunächst einmal wirkte das Verbot nicht, und es schuf auch keine Gesellschaft, in der Alkohol zum Tabu wurde. Die Gefängnisse wurden nicht zu Lagerhäusern, sondern waren Ende der 1920er überfüllt mit Häftlingen 8, von denen die Hälfte wegen Vergehen in Verbindung mit Alkohol einsaß.

Nach einem turbulenten Jahrzehnt kamen die Amerikaner zu dem Schluss, dass die Prohibition unterm Strich ein Misserfolg war. Deshalb wurde der 18. Verfassungszusatz, der zuvor unüberwindlich erschienen war, am 5. Dezember 1933 durch den 21. Zusatz aufgehoben. Es dauerte nur neun Monate, bis die erforderliche Mehrheit von 36 Bundesstaaten ihn ratifiziert hatte, einschließlich Ohio, der Heimat von Anti-Saloon League und Woman‘s Christian Temperance Union.

„Es handelte sich um eine abscheulich illiberale Politik mit deutlichen Untertönen von Fremdenfeindlichkeit und Klassendünkel.“

Die Debatte darüber, ob die Prohibition „funktioniert“ hat, ist problematisch, da sie implizit auf einer falschen Prämisse fußt. Sie suggeriert, dass sie eine gute Maßnahme gewesen wäre, hätte die Regierung sie nur richtig durchsetzen können. Aber wie Daniel Okrent (Autor des exzellenten „Last Call“) meint, war das Schlimmste an der Prohibition der Entzug individueller Freiheitsrechte. 9 Alle mit ihr verbundenen Probleme entsprangen der Reaktion der Menschen auf die Verletzung ihres Rechts zu trinken. Aber man sollte nicht davon ausgehen, dass die Prohibition von „Erfolg“ gekrönt gewesen wäre, hätte sich die Öffentlichkeit nur demütig gefügt.

Rückblickend wird deutlich, dass die Prohibition nicht „funktionieren“ konnte, weil es 1920 bei weitem zu viele Alkoholkonsumenten gab, die sie nicht respektieren würden. Aber selbst wenn die USA alles Blutvergießen und die Giftmorde verhindert hätten, wäre nichts Edles an diesem Experiment gewesen, auch nicht, wenn die Trinker nur eine unbedeutende Minderheit dargestellt hätten. Es handelte sich um eine abscheulich illiberale Politik mit deutlichen Untertönen von Fremdenfeindlichkeit und Klassendünkel. Die Prohibition war eine Schande, sowohl vom Grundsatz her als auch in der Praxis.

Eine Studie, die kürzlich einige positive Effekte früherer Alkoholverbote in einzelnen Bundesstaaten beschrieb, endete mit den Worten: „Ob diese Vorteile die Kosten der Prohibition aufwiegen, bleibt eine offene Frage“. 10 Weshalb? Weil „wichtig ist, dass für nach Nutzenmaximierung strebende Individuen der statistische Wert eines Menschenlebens seine Bedeutung verliert, da er den Nutzen entgangenen Alkoholkonsums nicht berücksichtigt.“ Die Autoren sind – wie man unschwer erkennt – Ökonomen, und ihr Standpunkt ist einfach, dass die Menschen gern Alkohol trinken. Sofern sie das Risiko kennen, zehren sie mehr vom Alkohol, als der Alkohol an ihnen (frei nach Churchill). Entzieht man ihnen diesen Genuss oder macht ihn teurer oder schwieriger verfügbar, fügt man ihnen echten Schaden zu. Dies ist ein entscheidender Aspekt der Gesundheitspolitik, der selten Erwähnung in der Fachliteratur findet.

Die Prohibition war keinesfalls ein rein amerikanisches Phänomen. Es wird oft vergessen, dass das gleiche Gesetz etwa zur selben Zeit in Island, Finnland, Russland, Kanada und Norwegen in Kraft war. In diesen Ländern hat es auch nicht „funktioniert“ und wurde bis Mitte der 1930er überall abgeschafft (obwohl unglaublicher Weise Bier in Island bis 1989 illegal blieb und das Verbot auf den Faröer-Inseln erst 1992 vollständig aufgehoben wurde).

Heute lebt die Prohibition in der islamischen Welt und Teilen Indiens, wo die einst in den USA üblichen Massenvergiftungen weiterhin stattfinden. Illegaler Fusel tötete im Februar letzten Jahres mindestens 100 Menschen in Uttarakhand und Uttar Pradesh. 11 Zwei Wochen später tötete schwarz gebrannter Schnaps 150 Menschen im Nordosten Indiens und brachte 200 weitere ins Krankenhaus. 12 Beim Hobeln fallen Späne, mögen Prohibitionisten einwenden. Aber worin liegt der Sinn dieses Hobelns?

„Illegaler Fusel tötete im Februar letzten Jahres mindestens 100 Menschen in Uttarakhand und Uttar Pradesh. Zwei Wochen später tötete schwarz gebrannter Schnaps 150 Menschen im Nordosten Indiens und brachte 200 weitere ins Krankenhaus.“

Die einfache Lektion aus solchen „edlen“ Experimenten lautet: Verbietet man Dinge, die den Staat nichts angehen und die von einem signifikanten Teil der Gesellschaft als völlig akzeptabel betrachtet werden, richtet man mehr Schaden an, als wenn man sie in Ruhe ließe. Gesetze zum Schutz der Bürger und ihres Eigentums erfahren allgemein Respekt. Gesetze zum Ausmerzen persönlicher Gewohnheiten, deren Folgen von denjenigen, die daran keinen Geschmack finden, einfach vermieden werden können, verdienen weder Respekt, noch werden sie ihn bekommen. Der heute gängige Begriff „scofflaw“ für die Millionen Menschen, die die Prohibition missachteten, setzt sich zusammen aus „scoff“ (Spott) und „law“ (Gesetz).

Leider haben nicht alle die Lektion gelernt. Zwar ist Alkohol in der westlichen Welt nicht akut von einer Prohibition bedroht, aber Verbote im Einzelfall behalten weiterhin ihren Reiz – sowohl für Konservative als auch für die progressive Linke. Der Makel der Prohibition ist nach wie vor gegenwärtig, weshalb heutige Prohibitionisten das Wort an sich vermeiden. Das Ziel bleibt jedoch dasselbe. Einige Anti-Tabak-Extremisten haben sich einen alten Prohibitionistentrick zunutze gemacht und gebrauchen das Wort „abolition“ 13, das Assoziationen weckt mit der edlen Sache der Abschaffung der Sklaverei. Andere bemühen den Euphemismus „Endphase“ für das unvermeidlich drohende Verbot von Zigaretten. 14 Letztes Jahr setzte sich die britische Regierung das Ziel, das Land bis 2030 „rauchfrei“ zu machen. „Rauchfrei“ bedeutete bisher das Verbot des Rauchens in Innenräumen. Nun meint es die vollständige Ausmerzung von Rauchtabak. Es ist schwer vorstellbar, dass das ohne drakonische Gesetze gehen könnte.

Beverly Hills soll der erste Ort in den USA seit den Tagen der Anti-Cigarette League werden, in dem der Verkauf von Tabakprodukten verboten wird. 15 Das winzige Königreich Bhutan verbot den Verkauf von Tabak Im Jahr 2004, mit vorhersehbaren Konsequenzen. Als das Gesetz verabschiedet wurde, stand im Editorial des Lancet: „Das nennen wir Fortschritt.“ 16 Die Verbreitung des Tabakkonsums hat seit dem Verbot von neun Prozent 17 auf 25 Prozent 18 zugenommen. Eine Studie aus dem Jahr 2011 fand „einen florierenden Schwarzmarkt und einen signifikanten und zunehmenden Tabakschmuggel“. 19 Wie das wohl gekommen ist?

In den USA haben als Gesundheitsexperten getarnte Fanatiker eine massive Moralpanik um E-Zigaretten orchestriert. Politiker und Interessenverbände benutzten schamlos den Tod dutzender Menschen durch kontaminierte THC-Öle vom Schwarzmarkt, um Druck auszuüben, die so genannten Liquids für E-Zigaretten zu verbieten. 20 Die Dummheit, mit Verboten legaler Produkte auf Probleme mit dem Schwarzmarkt zu reagieren, kann gar nicht deutlich genug hervorgehoben werden. Inzwischen hat San Francisco den Verkauf von Liquids komplett verboten, genauso wie Australien, Hongkong, Indien und Thailand.

„Verbietet man Dinge, die den Staat nichts angehen und die von einem signifikanten Teil der Gesellschaft als völlig akzeptabel betrachtet werden, richtet man mehr Schaden an, als wenn man sie in Ruhe ließe.“

Man kann über die Alkoholprohibition sagen, was man will, aber immerhin hatte sie ein Ende. Ein anderes Erbe der progressiven Ära hatte bisher keins: die Drogenprohibition. Je nach Definition dauert der Krieg gegen die Drogen nun 106 21 oder 108 22 Jahre an. Die Liste seiner Misserfolge muss wohl kaum aufgezählt werden. Die Todesfälle durch den Konsum illegaler Drogen erreichten kürzlich neue Rekorde in England und Wales 23 wobei sich die die Zahl der Toten durch so genannte „Legal Highs“ – die 2016 verboten wurden – innerhalb eines Jahres verdoppelte. Schottland weist die höchste Drogenmortalität in Europa auf und zählt mehr Tote durch illegale Drogen als durch Alkohol. 24 Bei Cannabis bewegen sich die Dinge global ein wenig in die richtige Richtung, aber das ist die Ausnahme. Von Zigaretten und Alkohol bis Zucker und Dampfen bestimmen überall die Neoprohibitionisten die Debatten.

Weshalb passiert es immer wieder? 1931 erinnerte der Journalist George Ade daran, dass „die Abstinenzler bereits 50 Jahre lang organisiert waren, die Trinker aber gar nicht. Sie waren zu sehr mit dem Trinken beschäftigt.“ Diese Anekdote birgt einige Wahrheit. Es gibt viele Alkoholkonsumenten, Raucher, Dampfer und Leute, die gern Süßes mögen, aber ihnen fehlen der Ansporn und die Fähigkeit, sich gegen ihre puritanischen Feinde zu wehren. Sie sind das, was Ökonomen als verstreute Interessengruppen bezeichnen, die von konzentrierten Interessengruppen unter Beschuss genommen werden. Normale Menschen, die ihr Leben führen müssen, können sich nicht mit hochmotivierten und professionellen Vollzeit-Lobbyisten messen. Die Anti-Saloon League war eine der ersten Pioniere dieses Modells, allerdings wurde sie – anders als viele ihrer heutigen Nachfolger – nicht aus Steuermitteln finanziert. 25

Bald wird es niemanden mehr geben, der sich auch nur dunkel an das Leben unter der Prohibition erinnert. Dann wird die Geschichte dieser Ära vielleicht völlig umgeschrieben. Diejenigen, die die Prohibition als Erfolg bezeichnen, werden zahlreicher werden. Sie werden uns erzählen, dass alles, was wir darüber wissen, falsch sei, und dass die Alkohollobby uns belügt und das „edle Experiment“ eine wegweisende Gesundheitsinitiative war und besser funktionierte, als man annimmt. 26 Und vor allem werden sie behaupten, dass es nun an der Zeit ist, es noch einmal zu versuchen.

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