01.09.2004

Die dicken Kinder von Deutschland

Essay von Thilo Spahl

Thilo Spahl über die Mission der Körperkontrolleure

„Die Diskriminierung von Dicken ist gesellschaftlich akzeptiert und staatlich gelenkt.“

Probieren Sie es einmal aus: Sie sitzen mit Freunden im Straßencafé und schauen sich die Passanten an. Sie verweisen auf einen „Neger“, einen „dreckigen Juden“, einen „Zigeuner“, einen „Kanaken“, einen „Spasti“. Die Reaktionen werden eindeutig sein. Wenn Sie aber ein „dickes Schwein“ ausmachen, kann es Ihnen gut passieren, dass Sie nicht nur zustimmendes Nicken, sondern auch bekräftigende Äußerungen von der Art „Echt widerlich!“ ernten. Die Diskriminierung von Dicken ist gesellschaftlich akzeptiert und staatlich gelenkt. Kopf der Kampagne ist Renate Künast; institutionalisiert wurde sie im Juni in der „Plattform Ernährung und Bewegung e.V.” Wie in allen Dingen des täglichen Lebens, so weiß die Ministerin auch hinsichtlich der wünschenswerten Körpermaße genau Bescheid, was gut für uns ist, und sie ist wild entschlossen, die Abweichung von der Norm mit den bekannten Mitteln der Ernährungsberatung zu bekämpfen.
Ob man zu den Abweichlern gehört und damit sich selbst und der Solidargemeinschaft schadet, lässt sich mit einer einfachen Formel bestimmen. Man nehme die eigene Körpergröße in Metern zum Quadrat und multipliziere mit 25. Das Ergebnis ist das zulässige Höchstgewicht. Am Beispiel: Ist man 1,78 m groß, gilt man ab einem Gewicht von 80 kg als übergewichtig, ab 95 kg fällt man in die Kategorie fettsüchtig beziehungsweise adipös.
Wir fragen uns: Wie denn, was denn, lernen wir nicht Toleranz in der Schule? Und bekommen zur Antwort: Jetzt aber mal langsam. Erstens haben wir es hier mit einer Epidemie zu tun, zweitens muss die Sozialverträglichkeit gewährleistet werden, und drittens liegt eine Gefährdung Minderjähriger vor.
Also gut, schauen wir uns die Sache mal genauer an.

Was heißt übergewichtig?

In jeder offenen Gesellschaft funktioniert Diskriminierung nur, wenn man für die Ausgrenzung der Betroffenen eine akzeptable Begründung finden kann, die möglichst auch noch von einer höheren Instanz kommt. Im vorliegenden Fall ist die Begründung eine medizinische und wird von der autoritativen Weltgesundheitsorganisation (WHO) geliefert, die Übergewicht als eines der bedeutendsten globalen Gesundheitsprobleme ausgemacht und bereits 1997 zur Epidemie erklärt hat.
Die epidemischen Ausmaße des Problems werden insbesondere durch beeindruckende Zahlen bezeugt. In Deutschland soll fast die Hälfte aller Menschen übergewichtig sein, in den USA gar zwei Drittel. Laut WHO-Definition von 1995 gilt als übergewichtig, wer einen Body Mass Index (BMI, berechnet als Gewicht geteilt durch die quadrierte Körpergröße) von über 25 hat, ab 30 wird Adipositas (Fettsucht) attestiert. Ein ernst zu nehmender Grund für eine solche Festlegung des Körperideals wäre der Nachweis, dass ab einem BMI von 25 tatsächlich verstärkt Krankheiten auftreten und diese auf das Figurproblem zurückzuführen sind. Hiervon kann jedoch keine Rede sein. Die Plausibilität, dass Übergewicht diverse Gesundheitsprobleme verursacht, ist eher gering. Die WHO verweist gewöhnlich auf Diabetes II, Bluthochdruck, hohe Cholesterinwerte, ein erhöhtes Risiko für verschiedene Krebsarten sowie auf eine geringere Lebenserwartung. Schaut man auf Korrelationen für die einzelnen Krankheiten, so fällt auf, dass sie häufig gering sind oder sich erst für einen BMI weit jenseits der 25 zeigen und dass in der Regel Übergewicht nur ein Risikofaktor von vielen ist. Um eine Reduzierung der Lebenserwartung zu zeigen, verweist die WHO auf wirkliche Extreme. So verringere sich die Lebenserwartung eines weißen Amerikaners, der im Alter zwischen 20 und 30 Jahren einen BMI von über 45 aufweist, um 13 Jahre, bei einer Frau gleichen Formats um 8 Jahre. Dafür muss der Betroffene allerdings bei 1,80 m Größe immerhin 146 kg auf die Waage bringen. Und der Zusammenhang ergibt sich nur, wenn er bereits in jungen Jahren so dick ist.
Die Düsseldorf Obesity Mortality Study (DOMS) zeigt für Frauen mit BMI zwischen 36 und 40 eine um 27 Prozent erhöhte Sterblichkeit, jedoch nur, wenn diese unter 40 Jahre alt sind. Bei den älteren findet sich eine leicht erhöhte Sterblichkeit erst ab BMI 40. Frauen mit BMI zwischen 25 und 32 weisen gar keine Reduzierung der Lebenserwartung auf. Bei Männern erhöht sich die Sterblichkeit bereits ab BMI 25. Das allein sagt jedoch gar nichts aus, da der Anteil der Dicken in den ärmeren Bevölkerungsschichten höher ist und diese aus vielfältigen Gründen eine höhere Sterblichkeit aufweisen. Den mit 59 Prozent höchsten Anteil der Übergewichtigen weist in Deutschland die Gruppe der 70- bis 79-jährigen Männer auf; damit sind unter den überdurchschnittlich Alten mehr Dicke als Normalgewichtige.

„Dicke aktive Menschen sind eindeutig gesünder als dünne Durchhänger und ebenso gesund wie dünne aktive Menschen.“

Versetzt man sich in die Lage des drei Zentner schweren 25-Jährigen, wird leicht klar, dass die bloße Korrelation von sehr hohem Körpergewicht mit geringerer Lebenserwartung nur wenig aussagt. Extremes Übergewicht geht mit einer Vielzahl von Einschränkungen einher, die das Leben verkürzen können, etwa soziale Isolation, geringe Chance, einen Partner zu finden, schlechtere Chancen im Beruf, eingeschränkte Freizeitmöglichkeiten, Ausschluss aus der Krankenversicherung usw. Es sind wahrscheinlich nicht in erster Linie die medizinischen, sondern die sozialen Konsequenzen des Übergewichts, die diesen Menschen in Gefahr bringen, früher als Dünnere zu sterben.
Bis zu einem deutlich in die Kategorie Fettsucht reichenden Übergewicht kann man mit einiger Sicherheit sagen, dass das Gewicht als solches eine unbedeutende Rolle für die Gesundheit spielt. Als sehr viel wichtiger hat sich die körperliche Aktivität erwiesen. Dicke aktive Menschen sind eindeutig gesünder als dünne Durchhänger und ebenso gesund wie dünne aktive Menschen.
Es gibt eine Vielzahl von Gründen, warum gewichtige Menschen Gesundheitsprobleme haben, die nur indirekt mit ihrem Gewicht zu tun haben. Die wichtigsten sind schlechte Ernährung, Bewegungsmangel, Gewichtschwankungen durch Diäten und mangelnder Zugang zu medizinischer Versorgung. Schaltet man diese Faktoren aus, bleibt nur das Übergewicht zurück, die meisten Gesundheitsprobleme verschwinden jedoch: Blutdruck und Cholesterinwerte sinken und damit auch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, ebenso das Risiko für Diabetes.
Dicke sind daher gut beraten, etwas für ihre Gesundheit zu tun. Sie sind schlecht beraten, wenn sie versuchen, dies durch Gewichtsreduktion zu erreichen. Denn es spricht vieles dafür, dass Diäten den Körper belasten und aufgrund des Jojo-Effekts langfristig zu Gewichtszunahme führen – von Frustration und Selbstzweifel ganz zu schweigen. Daher ist es nicht nur in sozialer, sondern auch in medizinischer Hinsicht fatal, wenn sich Gesundheitskampagnen auf Übergewicht kaprizieren, großteils gesunde Menschen mit einem schlechten Gewissen plagen und sie in Diäten, in noch größeres Übergewicht und teilweise in die Magersucht treiben. Für Schwergewichte ist es ein weit realistischeres und daher lohnenderes Ziel, fit und gesund als schlank zu werden.

Die dicken Kinder

Als primäre Zielgruppe der deutschen Anti-Dicken-Kampagne wurden Kinder ausgewählt. Das verwundert auf den ersten Blick, denn die Statistiken zeigen deutlich, dass der Anteil der Übergewichtigen stetig mit dem Alter ansteigt, bei den Kindern am geringsten und bei den über 70-jährigen am höchsten ist. Man folgt hier offenbar der Devise „Wehret den Anfängen“ und lässt verlautbaren, dicke Kinder seien in besonderem Maße gefährdet, dicke Erwachsene zu werden. Eine wissenschaftliche Bestätigung für diese These gibt es jedoch nicht.
Ein zweiter Grund für die Fokussierung auf Kinder ist der angeblich dramatische Anstieg von Übergewichtigen unter den Kleinen. Renate Künast schockt uns zur Kampagneneröffnung mit der Behauptung, bereits 42 Prozent der 10- bis 11-Jährigen seien übergewichtig. Das erstaunt. In der Gesundheitsberichtserstattung des Bundes (GBE) 2004 erfahren wir, in Deutschland seien je nach Definition 10 bis 20 Prozent der Schulkinder und Jugendlichen übergewichtig. Im jüngsten Ernährungsbericht aus dem Jahre 2000 lesen wir: „Nachgewiesen wurde, dass die gesundheitsbezogene Einstellung der Kinder zur Ernährung keine sehr deutliche Beziehung zum Körpergewicht hat. Für Jungen und Mädchen zwischen 6 bis unter 17 Jahren kann kein nennenswerter Anstieg von Übergewicht und Adipositas in Deutschland festgestellt werden.“ Auf Nachfrage erfährt man, repräsentative Daten lägen derzeit nicht vor. Die ersten Zahlen werden jetzt vom Robert-Koch-Institut erhoben. Mit Ergebnissen rechnet Künast 2006.
Auch die Kinder, die – gemessen und gewogen – zu den 10 bis 20 Prozent der dicken Kinder gehören, wollen es der Ministerin nicht so recht glauben. Bei einer Umfrage des Münchner Instituts für Jugendforschung (ijf) erklärten 58 Prozent der übergewichtigen Kinder, sie seien mit ihrem Körpergewicht zufrieden und fühlten sich damit genau richtig. Aus einem solchen Ergebnis kann die BMI-Allianz natürlich nur einen Schluss ziehen: Aufklärung tut bitter not. Man kann auch anderer Meinung sein. Der Ernährungswissenschaftler Udo Pollmer kritisiert, diese Kampagne trage „zur Stigmatisierung dicker Kids bei. Jetzt werden Pykniker erst recht gehänselt und gedemütigt. Frau Künast erhöht damit den Druck sogar auf jene, die sich selbst bislang weder als ‚übergewichtig’ ansahen noch von anderen so wahrgenommen wurden: gesunde Kinder beispielsweise, die sich künftig ohne Not Tag für Tag um ihr Gewicht sorgen dürften, oder pubertierende Mädchen, die sich vor ihren biologisch notwendigen Fettpölsterchen fürchten werden.“

Wer ist schuld an der angeblichen Epidemie?

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es tatsächlich etwas mehr dicke Kinder gibt als vor 10 oder 20 Jahren. Dann wäre zu fragen, woran das liegt. Renate Künast lässt keinen Zweifel daran, wer der Feind ist. Sie kämpft medienwirksam für die „Zukunft für Fast-Food-Kinder“ und gegen eine von ihr entdeckte „Armada von Designern“, die mit „Milliardenaufwand versucht, den Kindern bestimmte Produkte schmackhaft zu machen“.
Es ist aber nicht wahrscheinlich, dass für wachsendes Übergewicht in erster Linie falsche Ernährungsgewohnheiten, insbesondere Fast Food verantwortlich ist. Denn wenn der Anstieg in den letzten Jahren erfolgt sein soll, dann fällt er zeitlich zusammen mit einem Trend zur gesunden Ernährung. Im Ernährungs- und agrarpolitischen Bericht des Jahres 2004 der Bundesregierung wird immerhin mitgeteilt, das Ernährungsverhalten der Deutschen habe „sich im Durchschnitt in den letzten drei Jahrzehnten kontinuierlich verbessert“. Der Trend geht zu mehr Obst und Gemüse. Der Nettofleischverbrauch ist zwischen 1991 und 2001 in Deutschland um 7,2 Prozent auf 59,4 kg gesunken. Der Anteil der Energieaufnahme durch Fett ist laut GBE zwischen 1991 und 1998 von 40 auf 33,5 Prozent gesunken.

„Wenn in Deutschland jetzt schon Kindergartenkindern ins Gewissen geredet wird, darauf zu achten, ja kein Gramm zuviel auf die Waage zu bringen, dürfte der Schuss nach hinten losgehen.“

Wenn dennoch die Zahl der dicken Kinder steigt, dann liegt das wahrscheinlich eher an der eingeschränkten Bewegungsfreiheit der Kinder wegen Angst vor Sonnenlicht, Kinderschändern usw. und dem wachsenden Fernseh- und Gamekonsum.
Nicht zuletzt dürften die Anti-Dicken-Kampagnen selbst für eine Verschärfung des Problems sorgen. In einer amerikanischen Studie mit 600 High-School-Schülerinnen zeigte sich, dass von denen, die versuchten, ihr Gewicht zu kontrollieren, innerhalb von vier Jahren jede Zehnte übergewichtig wurde, von den unkontrollierten Esserinnen jedoch nur jede Dreißigste. Wenn in Deutschland jetzt schon Kindergartenkindern ins Gewissen geredet wird, darauf zu achten, ja kein Gramm zuviel auf die Waage zu bringen, dürfte der Schuss wohl nach hinten losgehen. Im Ernährungsbericht der Regierung des Jahres 2000 wird zu Recht darauf hingewiesen, dass Versuche, das Gewicht durch „rigide Kontrolle” zu halten oder zu senken, bei Kindern Übergewicht „geradezu auslösen”.

Die Mission der Ernährungsberater

Die Anti-Dicken-Kampagne hat nur oberflächlich mit Medizin zu tun. Sie ist in erster Linie ein Mittel der sozialen Abgrenzung, ein Mittel zur Selbstbestätigung der gehobenen Mittelschicht.

„Die Kampagne gegen Übergewicht ist die elitärste Variante der Konsumkritik.“

Ideal für eine funktionierende Diskriminierung ist eine ambivalente Schuldzuweisung, bei der die Betroffenen Opfer und Täter zugleich sind. Nur dann kann man eine moralische Erziehungskampagne organisieren. Wären sie nur Opfer, müsste ihnen mit Fürsorge und Hilfe und ohne jedes Ressentiment begegnet werden. Wären sie nur Täter, wäre das Moment der Selbstbestimmung zu groß. Die Betroffenen würden die Kampagne zu ihrer eigenen Bekehrung schlicht zurückweisen. Bei den Dicken ist die Mischung ausgezeichnet: Sie sind scheinbar selbst schuld, weil sie angeblich Unmengen von Chips und Cola in sich hineinschütten, und zugleich natürlich Opfer der bereits einschlägig gebrandmarkten Fast-Food-Industrie. Die Kampagne dient so dem Schutz der Dicken vor ihrer eigenen Schwäche und Unwissenheit, also ganz offenbar einem guten Zweck. Der emotionale Antrieb der BMI-Kämpfer konstituiert sich zu etwa gleichen Teilen aus Kontrollbedürfnis, Paternalismus und Abscheu.
„Dass ‚Übergewicht’ eine sinnvolle medizinische Kategorie ist, lässt sich bezweifeln: Die angeführten ‚Risiken’ und ‚Gefährdungen’ sind so aussagekräftig wie die ‚Dunkelziffer’ in anderem Zusammenhang. Diese Unschärfe ermöglicht es, mittlerweile 40 Prozent der Bevölkerung unter sozialpädagogische Kuratel zu stellen. Das nutzt nicht nur dem medizinischen und dem volksaufklärerischen Betrieb, sondern auch dem Distinktionsverlangen des immer dünner werdenden Mittelstands. Spätestens seit Renate Künast die Dickleibigkeit als neues Armutssignal ausgemacht hat, weiß die gehobene Angestelltenwelt: dick ist doof. Soziale Unterschiede werden verkörperlicht, gesunde und leistungsfähige Menschen gelten als proletenhafte Problemfälle“, schreibt Matthias Kamann in der Welt (19.5.04).
Der Jura-Professor Paul Campos weist in seinem Buch The Obesity Myth darauf hin, dass wir es hier mit einer wohlfeilen Variante der Konsumkritik zu tun haben: „Das Problem ist, dass die oberen Klassen in dieser Gesellschaft mehr überkonsumieren als jeder andere. Sie schießen sich aber auf die Form von Konsum ein, die negativ mit Einkommen korreliert ist, nämlich Kalorien. Wir reagieren also hysterisch auf die eine Form von Überkonsum, die nicht Privileg genau der gehobenen Schicht ist, die sich darüber aufregt.“ Diese elitärste Variante der Konsumkritik scheint auch bei deutschen Grünen allmählich zur beliebtesten zu werden.

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