21.08.2009

Das Erbe des Kosovokrieges? Internationaler Paternalismus!

Von Philip Cunliffe

Die Transformation des nunmehr formal „unabhängigen“ Kosovo in ein westliches Protektorat offenbart den Autoritarismus einer ethisch-motivierten Interventionspolitik.

Im März 1999 bombardierten die Nato-Mächte elf Wochen lang das ehemalige Jugoslawien, bestehend aus Serbien, dem Kosovo und Montenegro. Die Operation „Allied Force“ sollte die jugoslawischen Sicherheitskräfte aus der abtrünnigen Provinz Kosovo vertreiben. Nachdem es nach Ende des Krieges fast zehn Jahre lang von den Vereinten Nationen verwaltet wurde, hat sich das Kosovo vor eineinhalb Jahren für unabhängig erklärt. Was macht diesen kleinen, verarmten und isolierten Staat mit zwei Millionen Einwohnern bis heute so wichtig für die internationale Politik?

Wenn man heute über das Kosovo spricht, dann hauptsächlich über Probleme wie Drogen- und Menschenhandel, ethnische Unruhen und den internationalen Präzedenzfall, den die Sezession des Kosovo für andere instabile Regionen haben könnte. Doch eigentlich viel schwerwiegender ist das politische Erbe der Nato-Bombardierung von 1999. Viele Liberale betrachten rückblickend die Nato-Kampagne von 1999 als ein Beispiel einer noch unschuldigen Ära der Menschenrechtspolitik, bevor dann amerikanische Neokonservative die Menschenrechte für die Beherrschung des Mittleren Ostens missbrauchten. Damals wurde die Verletzung der jugoslawischen Souveränität als ein gerechter Krieg verteidigt, dessen moralischem Ziel, einen Genozid an den Kosovo-Albanern zu verhindern, Vorrang eingeräumt wurde. Die Gegner der Nato-Bombardierung wurden als Apologeten des serbischen Nationalismus abgestempelt, die sich mehr Sorgen um die Rechte von Staaten als um die Bedürfnisse einer leidenden Menschheit machten.

Im Nachhinein stellte sich heraus, dass es sich bei dem Genozid ebenso um einen Propagandaschwindel handelte wie bei Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen. Zudem unterstreicht die Entwicklung im Kosovo nach 1999, dass die westliche Allianz keine Verbündete der Kosovo-Albaner ist. Sie machte das Kosovo zu einem UN-Protektorat, das zwischenzeitlich in ein EU-Protektorat umgewandelt wurde, um die Unabhängigkeit des jungen Staates zu überwachen. Dieses System der „überwachten Unabhängigkeit“ untergräbt die Idee der Selbstbestimmung tief greifender als die direkte nationale Unterdrückung. Schon die Logik der „überwachten Unabhängigkeit“ räumt ein, dass tatsächliche nationale Unabhängigkeit ein nicht funktionierendes und nicht wünschenswertes Ziel ist, das zugunsten von belanglosen Freiheiten unter EU-Aufsicht aufgegeben werden muss. Des Weiteren wird so eine dauerhafte Abhängigkeit des Kosovo von der internationalen Gemeinschaft zementiert.

Früher hielten Kolonialmächte die Unabhängigkeit der von ihnen kolonisierten Völker als ein entferntes, aber immer erstrebenswertes Ziel hoch. Der neue Typ der Treuhänderschaft, wie wir sie heute im Kosovo sehen, ist dagegen heimtückischer: Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo und der zeitgleiche Beginn der Überwachung durch die EU verneint, dass Treuhänderschaft und Unabhängigkeit zwei sich gegenseitig ausschließende Bedingungen sind. Doch in Wirklichkeit wurde das Kosovo westlicher Fremdherrschaft unterworfen. Was als Kampagne für Freiheit und Gerechtigkeit dargestellt wurde, war lediglich die Verteidigung der minimalsten Grundrechte der Kosovo-Albaner als Opfer von Unterdrückung. Das Problem dabei ist: Opfern fehlt von Natur aus die Fähigkeit, ihr Schicksal selbst zu bestimmen.

Diese neue Ausprägung des internationalen Paternalismus hat sich seit dem Kosovokrieg konsolidiert. Dies zeigt sich zum einen an der Neudefinition von Legitimität und Autorität staatlicher Gewalt. Als Antwort auf den Kosovokonflikt wurde die Internationale Kommission zu Intervention und staatlicher Souveränität gebildet, die die Doktrin der „Verantwortung zum Schutz“ („Responsibility to Protect“ oder kurz „R2P“) formulierte. Diese Doktrin sollte staatliche Funktionen und individuelle Menschenrechte unter einen Hut bringen. Ihr zufolge ist es die Pflicht der internationalen Staatengemeinschaft, ein Volk vor seiner Regierung zu schützen, wenn diese dazu nicht in der Lage oder willens ist.

Die weltweite Befürwortung dieser Doktrin zeigt, dass die Nationalstaaten als Beschützer ihrer Völker agieren wollen. Da die Gewährleistung von Sicherheit als Endziel der Politik angesehen wird, bietet die R2P-Doktrin den Staaten eine passende Waffe, um das Konzept des souveränen Willens eines Volkes als oberste Rechtfertigungsinstanz staatlicher Gewalt zu zerstören. Während behauptet wird, dass die R2P-Doktrin die Zahl der humanitären Interventionen reduziert, festigt sie ihre Grundvoraussetzung: Völker werden als passive Empfänger von Sicherheit definiert, die von externen und von ihnen nicht kontrollierbaren Akteuren zur Verfügung gestellt wird. Die Souveränität des Volkes wird der Stärkung der Staatsgewalt geopfert.

Das Erbe des Kosovokrieges zeigte sich auch im Georgienkrieg 2008. Die russische Invasion in Georgien und die darauf folgende Anerkennung der abtrünnigen Provinzen Ossetien und Abchasien wurde im Westen mit Empörung kommentiert. Doch Russland verteidigte seine Kriegshandlungen mit Verweis auf genau die Argumentation, die der Westen seit 1999 im Kosovo bemüht. Der russische Schutz für die beiden Provinzen wurde als humanitäre Intervention gegen eine georgische Kampagne ethnischer Säuberung gerechtfertigt. Russlands Anerkennung ihrer Abspaltung versetzte die beiden Provinzen in eine ähnliche Lage wie das Kosovo – sie sind diplomatisch isolierte Mini-Staaten, deren politisches Überleben von der Großzügigkeit anderer Staaten abhängt.

Wenn man die Opposition Russlands gegenüber der NATO-Kampagne von 1999 in Betracht zieht, dann illustriert die verspätete und opportunistische Inanspruchnahme humanitärer Intervention nur zu gut, wie folgenschwer die politische Weichenstellung im Kosovokrieg – und vor allem die Idee, dass sich Großmächte legitimerweise als Beschützer von kleinen und schwachen Staaten aufspielen können – tatsächlich ist. Der Anspruch Moskaus, in diesem Fall über eine größere moralische Autorität zu verfügen als der Westen, wurde offensichtlich. Die russische Regierung ist nicht an einer prinzipiellen Verteidigung von Souveränität interessiert, sondern nur an ihrer eigenen.

Es zeigt sich, dass sich durch humanitäre Interventionen die Förderung von universellen Menschenrechten in ihr Gegenteil verkehrt hat. Wurden sie einst als Glaubensbekenntnis zum Schutz unterdrückter Minderheiten und einer leidenden Menschheit gegen staatliche Verwüstungen gerechtfertigt, so sind sie heute zu einer Rechtfertigung imperialistischer und paternalistischer Bestrebungen von Staaten geworden. Die zynische Antwort darauf, dass jeder Idealismus zwangsläufig zum Handlanger der Macht werde, würde hier den Punkt verfehlen. Sie würde nur die liberalen Interventionisten aus ihrer Verantwortung entlassen und ihnen erlauben, sich auf die Position eines naiven, aber unpraktischen Universalismus zurückzuziehen. Aber selbst, ihnen dies zu ermöglichen, wäre zu viel: Das Erbe des Kosovo zeigt uns nicht, dass universelle Menschenrechte nicht durchsetzbar, sondern eher, dass sie nicht erstrebenswert sind.

Das Wiederaufleben von Protektoraten ist die logische Konsequenz der Struktur universeller Menschenrechte selbst. Getrennt von einer kollektiven Vision von Politik und nationalen Rechten, reduziert militärischer Humanitarismus Menschen unvermeidlich zu Opfern – sowohl ihrer „Unterdrücker“, als auch ihrer „Befreier“.

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